Das Bergell – ein Tal in dem die Zeit stehengeblieben scheint
Nachdem wir am Vortag am Bernina Pass geniales Wetter hatten, ist für heute Regen angesagt. Morgens hängt die obligatorische Wolke, die uns diese Woche begleiten wird, in St. Moritz wieder fast bis auf den Boden. Ein Blick auf die Satellitenkarte zeigt uns aber, dass es im Bergell erst ab Abend regnen soll. Also fahren wir heute ins Bergell. In diesem Beitrag erzähle ich dir etwas über Esskastanien und andere Erkenntnisse im kleinen Ort Castasegna. Wir begeben uns auf Spurensucher der Giacomettis. Ich nehme dich mit ins mittelalterliche Städtchen Soglio, welches schon Berühmtheiten wie Rilke vor uns verzaubert hat. Schliesslich endet der Tag passend zu mittelalterlich in Vicosoprano mit dem Thema Hexenverfolgung.
Also lass dich inspirieren und mach dir selber ein Bild vom wunderschönen Bergell und seinen malerischen Orten.
Das Bergell – ein Tal in Graubünden mit mediterranem Klima
Das Bergell oder Val Bregaglia erreichst du, nachdem du dich in 14 Haarnadelkurven über den Maloja Pass nach unten geschraubt hast. Dass es 14 Kurven sind, habe ich gelesen, nicht gezählt. 220 Höhenmeter später erreichst du eine andere Klimazone. Obwohl auf beiden Talseiten hohe Berge wie Zähne in den Himmel ragen, herrscht hier mediterranes Klima. Deshalb wartet das Bergell auch mit den grössten Esskastanienwäldern Europas auf.
Das Bergell verbindet die Schweiz mit Italien. 1.500 Menschen leben dauerhaft in den Dörfern des Tals. Maloja gehört zwar zum Bergell, wirkt aber eher wie zum Engadin gehörend. Wir besuchen Maloja an einem anderen Tag, als wir uns auf Spurensuche des Malers Giovanni Segantini begeben.
Bleibst du auf der Umgehungsstrasse erreichst du zwar schnell die italienische Grenze, aber von den hübschen Dörfern, die sich wie Perlen einer Kette aneinander reihen, bekommst du dann nichts mit. Im Bergell ticken die Uhren anders. In den fast mittelalterlich anmutenden Dörfern mit Häusern aus mehreren Jahrhunderten geht es ruhig zu. Manche Orte wie Soglio sind fast autofrei.
Wir beginnen unsere Erkundung des Bergell im letzten Ort auf der schweizer Seite des Bergell, in Castasegna.
Castasegna – ein Ort der Überraschung
Von der Umgehungsstrasse kommend, fährt man mitten durch die schmale Hauptstrasse des Ortes und macht ordentlich Lärm Dank des Kopfsteinpflasters.
Wir parken das Auto, studieren die Karte und finden den Einstieg in den Kastanienlehrpfad. Bevor wir jedoch zu den Kastanien Selven aufsteigen, reibe ich mir verwundert die Augen. An der Villa Garbald weisst ein Schild daraufhin, dass die Villa nach Entwürfen von Gottfried Semper erbaut wurde.
Sollte der berühmte Erbauer der Semper Oper in Dresden hier in einem kleinen Bergdorf im Bergell ein Haus entworfen haben? Ein kurzer Blick ins Internet bestätigt es jedoch. Semper entwarf die Villa 1862 für das Ehepaar Agostino und Johanna Garbald-Gredig als italienisches Landhaus. Es ist damit der einzige Semperbau südlich der Alpen. Nach seiner Dresdner Zeit und einigen Wanderjahren lebte und arbeitete Semper 16 Jahre lang in Zürich. Leider ist die Besichtigung der Villa nur nach Voranmeldung möglich.
Während Agostino Garbald der örtliche Zollinspektor war, veröffentlichte seine Frau unter dem Künstlernamen Silvia Andrea ihr literarisches Werk. Zu ihrer Zeit war sie wohl eine wichtige Stimme der schweizer Literatur. 2014 wurden im Chronos Verlag 4 Werke neu verlegt. Davon ist «Das Bergell: Wanderungen in der Landschaft und ihrer Geschichte» zur Zeit im Buchhandel noch erhältlich.
Unterwegs im Kastanienwald
Während wir langsam aufwärts steigen, sehen wir bereits Einzelexemplare von Kastanienbäumen in den Gärten. Manche haben sehr eigenartige Wuchsformen. Später lesen wir, dass das Entfernen der Krone eines alten Baums der Versuch ist, ihn bei Befall durch die sogenannte Tintenkrankheit zu retten. Durch das Entfernen der Krone regt man den Baum an, von unten frisch auszutreiben. Ungeachtet wie gagelig ein Baum aussieht, sie alle hängen voller Früchte.
Vorbei geht es an speziellen Dörrhäusern aus dem Dorf hinaus. Unten wird gefeuert. Rauch und Hitze steigen nach oben, wo die Kastanien auf Rosten zum Trocknen liegen. Nach sechs Wochen ist es schliesslich so weit: Die Kastanien können weiterverarbeitet werden.
Zuerst füllt man die Kastanien in spezielle Säcke und schlägt sie so lange an einen Baumstumpf bis sich die Schalen lösen. Anschliessend kommen sie in Schwingkörbe. Mit deren Hilfe trennt man die Kastanien von den Schalen. Zuletzt sortiert man sie mit Hilfe von Sieben nach Grösse.
Wir geniessen den Weg durch die Kastanienselven. Das Wort Selve wird für Hochstammobstanlagen von veredelten Esskastanien verwendet. Wald würde es nicht treffend beschreiben, da man sich unter einem Wald eine dichtere Ansammlung von Bäumen vorstellt. Da die Bäume aber nur an Ästen, die viel Licht erhalten, Früchte tragen, sind die Kastanienbäume mit grossem Abstand voneinander gepflanzt.
Verwendung der Esskastanie
Die Römer waren es. Ihnen verdanken wir die Verbreitung der Esskastanienbäume im ganzen Römischen Reich.
Die Esskastanie war in vielen Gegenden das Brot der armen Leute. Getrocknete Kastanien wurden zu Mehl gemahlen. Daraus stellt man Brot, Pasta, Polenta und sonstiges Gebäck her. Wohingegen nur ein kleiner Teil der Esskastanien frisch Verwendung findet. Gekocht oder geröstet stellen sie Beilagen dar. Als Dessert sind sie im Herbst unschlagbar. Egal ob als Eis, Vermicelli oder Kuchen – die süssen Kalorienbomben sind lecker.
Darüber hinaus braut man auch Bier und Likör aus Kastanien. Allerdings ist uns das Bier leider nirgendwo begegnet. Auch wenn Kastanienprodukte sich heute wieder grosser Beliebtheit erfreuen (die Kastaniennudeln waren oft ausverkauft), lohnt sich das Geschäft mit der Esskastanie gleichwohl nicht mehr. Der Aufwand ist zu gross. Die Bäume müssen gepflegt werden und eingewanderte Schädlinge und Pilzkrankheiten wollen bekämpft werden. Die manuelle Ernte ist zeitintensive. Die Plumpsfrüchte müssen aufgesammelt und anschliessend getrocknet werden, bevor man sie verarbeiten kann. Im Verhältnis zum finanziellen Ertrag ist der Aufwand zu hoch.
Der Kastanienlehrpfad
Wenngleich dieser Kastanienlehrpfad ins Leben gerufen wurde, um Castasegna, als unterstes Dorf des Bergell touristisch attraktiver zu machen, können wir den Rundweg sehr empfehlen. Denn der Kastanienwald bildet einen bedeutenden Teil der Geschichte und Kultur des Bergell. Immer wieder geben Tafeln informative Auskünfte.
Auf unserem Pfad treffen wir auch die besonderen Mitarbeiterinnen der Mobiliar Versicherung – die «MoBees». Mit den Bienen schärft die Versicherung werbewirksam den Blick für die Bedeutung der Bienen für unsere Ernährung.
Im Moment blühen auf den Wiesen überall die Herbstzeitlosen. Das Colchicin ist jedoch für Mensch und Tier giftig. Inwiefern hier Tiere im Frühjahr, wenn die Blätter der Herbstzeitlosen herauskommen, weiden können, wissen wir nicht.
Auf dem Rückweg nach Castasegna kommen wir am Garten des Restaurants Casa Roccabella vorbei. Während wir schauen, ob es offen oder geschlossen ist, winkt uns der Koch herein. Deshalb machen wir es uns im Garten als einzige Gäste bequem. Das hat den Vorteil, dass viel Zeit zum Unterhalten und fachsimpeln über das Gärtnern bleibt. Das Restaurant wird von einem Ehepaar betrieben. Er kocht und sie bedient. Tomaten, Salat, Feigen – alles wird frisch aus dem Garten geholt.
Also solltest du von unserem Beitrag angeregt ins Bergell fahren, solltest du deine Tour so legen, dass du in Castasegna im Restaurant Casa Roccabelle essen kannst.
Wir geniessen anschliessend noch den Blick über Castasegna und laufen dann zum Auto zurück, um weiter nach Soglio zu fahren.
Tipp: Wer mehr rund um die Kastanie erleben möchte, sollte sich den Veranstaltungskalender des Kastanienfestivals im Bergell ansehen.
Soglio – ein Ort aus der Vergangenheit
Von Castasegna kommend, erklimmen wir mit dem Auto das Bergdorf Soglio, welches auf 1.080 m am Berg thront.
Vor dem Ortseingang steht der stündlich verkehrende Postbus. Wir sind froh, dass wir ihm auf der schmalen Strasse nicht begegnet sind. Ein kleiner Parkplatz befindet sich vor dem Ortseingang. Als wir kommen, ist der Parkplatz voll, aber wir haben Glück. Während wir noch überlegen, was wir mit dem Auto machen, wird ein Platz frei.
Ohne Plan wandern wir anschliessend kreuz und quer durch die schmalen Gassen von Soglio. Es ist wie eine Zeitreise.
Neben schmalen Gassen, alten Ställen und engen Häusern stehen in Soglio auch grosse Palazzi, die man hier nicht vermuten würde. Es sind die Herrenhäuser der Familie von Salis, einem alten Adelsgeschlecht. Sie sind wahrscheinlich im 13. Jahrhundert aus Como eingewandert. Seit 1876 wird der Palazzo als Hotel geführt. Wer fürstlich in altem Mobiliar übernachten möchte, ist hier richtig. Vielleicht hat man ja Glück und kann im einst von Rainer Maria Rilke bewohnten Zimmer nächtigen.
Tipp: Donnerstags gibt es um 16.00 Uhr eine Führung durch den Palazzo Salis. Dafür muss man sich vorher anmelden.
Wir haben unseren Bummel durch Soglio sehr genossen. Was diesen Ort so besonders macht, ist wohl die Bergkulisse. Wir müssen bei schönem Wetter unbedingt noch einmal wieder kommen. Doch schau dir selbst die Bilder von Soglio an.
Auf dem Weg zum Auto werfen wir noch einen letzten Blick auf die Berge. Künstler wie Segantini, Giacometti oder Rilke waren genauso begeistert von Soglio wie wir.
Auf Spurensuche der berühmten Giacometti Familie im Bergell
Wir verlassen Soglio und fahren weiter in Richtung Stampa. Dort begeben wir uns auf Spurensuche von Giacometti. Wahrscheinlich sind dir schon einmal Werke von Alberto Giacometti begegnet, aber wusstest du, dass er der Spross einer Künstlerfamilie aus dem Bergell war? Uns war es nicht bewusst.
Stampa war die Heimat der Künstlerfamilie und Stampa ist heute so etwas wie das kulturelle Zentrum des Bergell. Der Ort selbst hat keine Umgehungsstrasse bekommen und ist eher unspektakulär. Doch wir begeben uns hier auf Spurensuche der Künstlerfamilie.
In Stampa steht das Centro Giacometti. Ein Schild weist darauf hin, dass es sich beim ehemaligen Hotel Piz Duan um das Geburtshaus von Giovanni Giacometti handelt. Vis à vis befindet sich ein Stall aus dem 18. Jahrhundert, den Giovanni Giacometti zum Atelier ausbaute. Später wurde es auch von Alberto genutzt. Um das Atelier besichtigen zu können, muss man sich jedoch in der Ciäsa Granda anmelden. Für einen Besuch des Museums Ciäsa Granda hat unsere Zeit leider nicht mehr gereicht.
Die Künstlerfamilie geht zurück auf Zaccaria Giacometti sen., denn er war der Zeichenlehrer von Giovanni und Augusto. Giovanni der Vater von Alberto (Künstler) , Diego (Bildhauer und Designer), Ottilia und Bruno (Architekt), gehörte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen mit Cuno Amiet, Ferdinand Hodler und Félix Vallotton zur Avantgarde der Schweizer Kunst.
Der Tag verging wie im Flug. Auf dem Weg nach Vicosoprano, halten wir noch bei der Kirche San Giorgio und dem Friedhof von Borgonovo. Zum einen liegt hier die ganze Giacometti Familie beerdigt. Zum anderen wird der Innenraum von einem Glasfester, welches Augusto Giacometti geschaffen hat, erhellt.
Vicosoprano, der alte Hauptort des Bergell
Bereits von der Strasse kommend, fällt einem dieser Ort ins Auge. Deshalb hatten wir uns schon auf dem Weg nach Castasegna vorgenommen, auf dem Rückweg hier anzuhalten. Und obwohl es schon recht spät ist und es sehr nach Regen aussieht, machen wir uns noch auf zur Ortserkundung.
Die Patrizierhäuser in Vicosoprano erzählen eine Geschichte von Wohlstand dieses Ortes. Auch heute ist der Ort so etwas wie das wirtschaftliche Zentrum des Bergell. Der alte Gemeinde- und Gerichtssitz aus dem Jahr 1583 fesselt unsere Aufmerksamkeit. Als erstes fällt einem eine Karte des Bergell auf der Hausfassade ins Auge.
Neben der Tür fallen auch die beiden Wandbilder auf. Eines der Bilder zeigt die Gerechtigkeit als Justitia mit Waage und Schwert, aber ohne Augenbinde. Das andere Bild steht für die Mässigkeit, die Figur mischt den Wein mit Wasser.
Betritt man das Gebäude, so empfängt einen ein grosses, düsteres Wandgemälde, was einen weiteren Hinweis auf die Funktion des Gebäudes in Vicosoprano gibt.
Dagegen wirkt der in Holz gehaltene Gerichtssaal fast heimelig. Uns erinnert er ein wenig an ein altes Schulzimmer. Die Zuschauerbänke sehen jedoch eher wie Kirchenbänke aus.
Demgegenüber ändert sich die Szenerie schlagartig, wenn man im Senvelenturm nach oben steigt. Dieser Turm aus dem 13. Jahrhundert wurde damals ins Rathausgebäude integriert und zum Gefängnis umgebaut. Aus dieser Zeit stammen auch die ausgestellten Folterinstrumente und die Schandmaske. Im Turm findet man auch die Hinweise auf die Galgensäulen im Wald. An diesen Galgen wurden allein 25 Personen wegen Zauberei hingerichtet. Auch andere Straftaten wurden im Wald gerichtet. Vom Erhängen über Enthaupten bis zum Verbrennen waren verschiedene Urteilsvollstreckungen möglich. Obwohl Vicosoprano seit Mitte des 16. Jahrhunderts prostestantisch war, gab es hier auch Hexenprozesse. Die kleineren Verbrechen wurden wohl mit dem Pranger bestraft, der heute noch an der Aussenmauer des Rathauses zu sehen ist.
Tipp: Im Talmuseum in Poschiavo (Palazzo de Bassus-Mengotti) wird das Thema Hexenverflogung auch mit einem Ausstellungsschwerpunkt aufgegriffen.
Als wir das Rathaus verlassen, fängt es unmittelbar danach an zu regnen, so dass wir unseren Rundgang abbrechen und ins Auto flüchten.