Dolce Vita und Geschichte in Poschiavo
Ein überraschend entspanntes mediterranes Lebensgefühl erwartet uns in Poschiavo, nachdem wir von unserem Ausflug zum Gletschergarten in Cavaglia wieder im Tal gelandet sind. Wir flanieren über die Piazza und geniessen einen grossen Eisbecher, bevor wir auf Entdeckungsreise in die Vergangenheit eintauchen. In diesem Beitrag nehme ich dich mit zu den Häusern der Zuckerbäcker. Auch kannst du einen Blick in eines der ältesten Bauernhäuser im Alpenraum, die Casa Tomé werfen. Du erfährst etwas über die Geschichte von Armut, Auswanderung und Reichtum, denn das ist die Geschichte von Poschiavo, die auch in der informativen Ausstellung im Palazzo de Bassus-Mengotti thematisiert wird.
Also lass dich inspirieren und mach dir selbst ein Bild und geniesse das süsse Leben in Poschiavo.
Bummel durch Poschiavo
Von der Piazza aus bummeln wir kreuz und quer durch Gassen. So entdecken wir die Häuser der Zuckerbäcker und auch die Casa Tomé. Gleich zu Beginn unseres Bummels fällt uns aber der markante romanische Kirchturm der Kirche San Vittore Mauro im Zentrum von Poschiavo ins Auge.
Auf der Suche nach dem Eingang der Kirche kommen wir zuvor am Sant’Anna Beinhaus vorbei. Hier werden die Gebeine aufgehoben, die man bei der Renovierung der Kirche unter dem Fussboden fand. Allerdings ist das Beinhaus geschlossen.
Ebenfalls in Orange gehalten ist das alte Augustinerinnen-Kloster mit dem aufgesetzten Turm auf der Kapelle. Heute scheint ein Altersheim im Kloster untergebracht zu sein.
Bevor wir die Strasse mit den Häusern der Zuckerbäcker erreichen, kommen wir an typischen Engadiner Häusern genauso wie an Villen mit grossen Gärten vorbei.
Die Häuser der Zuckerbäcker von Poschiavo – eine Geschichte von Auswanderung
Auswanderung gehörte zum harten Leben im Puschlav. Die mangelnden wirtschaftlichen Ressourcen lassen die Bewohner ihr Glück anderweitig suchen. Hier spricht man auch vom «Hunger der Berge». Ob nun als Kaufleute, Handwerker oder Söldner, vor allem im 19. Jahrhundert mussten viele Puschlaver wie auch andere Graubündener auswandern.
Einige der erfolgreichen Auswanderer waren ausgebildete Zuckerbäcker (Konditoren). Oder sie hatten sich auf das Geschäft mit Kaffee und Spirituosen spezialisiert. Sie eröffneten in zahlreichen europäischen Ländern, aber auch in Australien, Nord- und Südamerika «Schweizer Cafés». Erst der Erste Weltkrieg, die Russische Revolution und der Spanische Bürgerkrieg setzten dieser Bewegung ein Ende.
Manche dieser Puschlaver Auswanderer brachten es schliesslich im Ausland durch harte Arbeit und unternehmerisches Geschick zu beträchtlichem Wohlstand. Sie stellten ihren Reichtum zu Hause zur Schau, indem sie am südlichen Dorfrand von Poschiavo prächtige Villen erstellen liessen. Man nennt sie die Häuser der Zuckerbäcker.
Die Via dei Palazzi ist eine etwa 120 Meter lange Reihe von Häusern im neoklassizistischen Stil. Alle Häuser sind nach Süden ausgerichtet. Auf der anderen Seite der schmalen Strasse liegen die Gärten und Pavillons, die teilweise liebevoll bewirtschaftet sind.
Das einheitliche Bild dieses heute unter Denkmalschutz stehenden Ensembles ist dabei dem damaligen Gemeindepräsidenten von Poschiavo – Tomaso Lardelli – zu verdanken. Er plante die ersten Häuser im Auftrag von ausgewanderten Verwandten mit dem venezianischen Architekten Giovanni Sottovia. In der Folge wurden die Häuser ab 1856 realisiert.
Von den Häusern der Zuckerbäcker führt uns unser Weg als Nächstes zur Casa Tomé. Hier wird das harte Leben der in den Bergen so richtig deutlich.
Casa Tomé – ein Bauernhaus mit über 600 Jahren Geschichte
Das Gegenteil einer Villa ist die Casa Tomé. Es ist eines der besterhaltenen Bauernhäuser im gesamten Alpenraum. Der älteste Teil des Hauses wurde bereits während des Mittelalters erbaut. Er wird auf das Jahr 1357 datiert. Seit der Erbauung des Hauses hat es diverse Anbauten gegeben. Diese folgten der wirtschaftlichen Entwicklung des Tals und den Bedürfnissen seiner Bewohner.
Für uns unvorstellbar sind allerdings die Lebensumstände der Schwestern, die in diesem Haus bis 1990 lebten. Wer das Haus heute besucht, findet es so vor, wie sie es vorher verlassen haben.
Spartipp: Da zum Puschlaver Talmuseum sowohl die Casa Tomé als auch der Palazzo de Bassus-Mengotti gehören, kannst du beide Häuser mit einem Eintritt besuchen. Allerdings sind die Museen nur saisonal geöffnet. Die geltenden Öffnungszeiten und Informationen über Führungen findest du auf der Website.
Rundgang durch die Casa Tomé
Durch den Torbogen gelangt man zuerst in den gedeckten Innenhof. Von dort geht es auf einer Treppe zu den Wohnräumen nach oben. Die Tiere gehen durch den Innenhof in den Stall. Ebenso erreicht man Garten, Scheune und Werkstatt über den Innenhof. Dies scheint charakteristisch für Bauernhäuser des 17. und 18. Jahrhunderts in dieser Gegend zu sein.
In der Casa Tomé gibt es heute zwei Küchen, da zwischen 1750 und 1850 zwei Familien das Haus bewohnten. Ursprünglich nahm die Küche mit der offenen Feuerstelle das gesamte erste Stockwerk des mittelalterlichen Hauses ein. Die zweite Küche ist inzwischen etwas moderner. Dort stehen nebeneinander ein noch anzufeuernder, ein elektrischer Kochherd von circa 1920 und ein etwas neuerer, aber dennoch musealer Kochherd. Strom und fliessend kaltes Wasser sind der einzige Luxus im Haus.
In der Vorratskammer steht der Brotofen. Weshalb hier die Brote trocken und mäusesicher von der Decke hängen. Diese mit Anis gewürzten Ringbrote werden in Poschiavo bis heute gebacken. Die Bewohner waren Selbstversorger. Sie bestellten einige Felder ausserhalb des Dorfes mit Kartoffeln, Roggen und Gerste.
Die beiden Stuben im Haus wurden erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts getäfert und mit einem Ofen ausgestattet. Später wurden dann noch elektrische Leitungen verlegt. Sie dienten als Wohn- und Schlafzimmer.
Das Haus wirkt bedrückend auf uns. Insofern sind wir froh, als wir wieder im warmen Sonnenlicht stehen. Es ist fast so, als ob man die Mühsal seiner Bewohner noch aus jeder Ritze heraus spüren kann.
Geschichte und Geschichten im Palazzo de Bassus-Mengotti
Der Palazzo wird im Jahr 1655 von Hauptmann Tommaso de Bassis in Auftrag gegeben. Er steht auf dem rechten Flussufer und nimmt somit eine Sonderstellung zum Dorf ein. Tommaso de Bassis war ein wichtiger Politiker. Finanzielle Schwierigkeiten zwangen jedoch seinen Sohn, das Haus zu verkaufen. Dadurch gelangte es in den Besitz der Familie Mengotti. Diese baute das Haus mehrfach um und erweiterte es.
Geschickte Heiratspolitik führte zur Vermehrung des Reichtums. Im Museum hängen die Porträts und Stammbäume der Besitzer des Hauses.
Heute gehört der Palazzo zum Talmuseum in Poschiavo genauso wie die Casa Tomé.
Ausstellungen im Palazzo de Bassus-Mengotti
Im Moment ist eine temporäre Ausstellung der Hexenverfolgung gewidmet. Das Puschlav war eine kleine, sich selbst verwaltende Republik mit eigener Gerichtsbarkeit. Erste Hinweise auf den Tatbestand der Hexerei gibt es bereits Mitte des 16. Jahrhunderts. Erst hundert Jahre später wird der Tatbestand der Hexerei in den lokalen Gesetzen verankert. Folterung zur Erzwingung von Geständnissen war die Regel. Mindestens 130 Menschen wurden wegen Hexerei verurteilt.
Ein weiterer sehr interessanter Schwerpunkt ist das Thema Auswanderung.
Neben den Ausstellungen ist natürlich auch das Innere des Hauses interessant zu besichtigen. Das Haus hat eine eigene geweihter Kapelle.
Weiterhin haben hier etruskische Keramik und Ritualgegenstände aus Indien eine Heimat gefunden. Überdies wird auch die Geschichte von M 13 erzählt. Ausgestopft, soll er jetzt Touristen anziehen.
Alles in allem ist das Museum sehr vielfältig und lohnt durchaus einen Besuch. Fällt dein Besuch in Poschiavo auf einen Mittwoch, solltest du noch die Besichtigung der Mühle Aino mit Sägerei und Schmiede in Erwägung ziehen.
Tipp: Neben dem Palazzo de Bassus-Mengotti befindet sich eine Bäckerei, in der man sehr leckere Puschlaver Spezialitäten kaufen kann.
Aussicht in Miralago
Hast du noch Zeit, könntest du noch einen Abstecher nach Miralago machen. Wir beenden dort unseren heutigen Tag. Miralago liegt am anderen Ende des Lago di Poschiavo. Von dort hat man einen herrlichen Blick über den See und auf die Berge. Das kleine Dorf besteht nur aus einem Bahnhof und ein paar Häusern am See. Parken kann man ausserhalb. Wirfst du einen Blick nach oben, siehst du die Kirche San Romerio, zu der man auch wandern könnte.