Rasa – ein Ort ohne Strasse im Centovalli
Das Centovalli – verdankt seinen Namen «hundert Täler» den unzähligen Seitentälern, die vom Haupttal der Melezza abzweigen. Kleine Dörfer, zerklüftete Berge und die tief ins Tal eingeschnittene Melezza prägen das Landschaftsbild. Unser Ziel ist der Ort Rasa und seine Ursprünge, welche heute Terra Vecchia genannt werden. Rasa ist nur durch eine Seilbahn zu erreichen und dürfte wohl der letzte Ort der Schweiz sein, zu dem keine Strasse hinführt. Jetzt Mitte März sind die Bäume noch kahl und auf den höheren Bergen liegt noch Schnee. Eine wundervolle Kulisse vor blauem Himmel.
Durch die steilen und von zahlreichen Einschnitten geprägten Berghänge ist die Gefahr von Naturkatastrophen im Centovalli gross. Deshalb befinden sich viele der Dörfer im Centovalli auf klimatisch günstig gelegenen Hangterrassen und Vorsprüngen. Eine wichtige Lebensgrundlage für die Bewohner war Weideland für die Viehwirtschaft und Kastanien- und Nussbaumwälder (Selven genannt). Um Kartoffeln oder Getreide anbauen zu können, wurden die Hänge terrassiert und mit Trockenmauern befestigt.
Das Centovalli
Eine Strasse, die einem der beiden alten Maultierpfade folgt, schlängelt sich in vielen Kurven ab Locarno über schöne Viadukte langsam nach oben in Richtung italienische Grenze. Die Centovallibahn folgt ihr. Eisenbahnfans ist diese 52 km lange Strecke von Locarno durch das Centovalli bis nach Domodossola in Italien sicher bekannt. Die Centovallibahn durchquert 31 Tunnel und überquert 83 Brücken, bis sie in Domodossola ankommt.
Die Centovallibahn ist eine Schmalspurbahn, die mit 1000 Volt Gleichstrom betrieben wird. Sie wurde 1923 eröffnet. In vielen dieser Dörfer im Centovalli scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Bis auf den grösseren Ort Intragna, wo Funde auf eine Besiedlung zur Römerzeit hindeuten, scheinen die anderen Orte erst ab dem 13. Jahrhundert besiedelt worden zu sein. Woher ihre Bewohner kamen, ist unklar.
Heute ist das Centovalli vor allem bei Wanderern beliebt. Dank Seilbahnen sind viele Ausflüge und Wanderungen auch familientauglich. Unter anderem kann man auch von Rasa nach Intragna wandern und die Aussicht vom höchsten Kirchturm des Tessin geniessen.
Wir reisen mit der Bahn an. Das Ticino-Ticket, welches man bei Übernachtungen im Tessin erhält, ermöglicht die kostenlose Nutzung der Centovallibahn im Tessin. Von der Falconeria, welche wir am Vormittag besucht haben, laufen wir zur Station Locarno S. Antonio und fahren mit der Bahn bis zum Bahnhof Verdasio. An diesem Bahnhof fährt auch die Seilbahn nach Rasa ab.
Mit der Seilbahn nach Rasa
In Verdasio angekommen, sieht man die Seilbahnstation direkt am Bahnhof. Der Bahnhof befindet sich unterhalb der Strasse, an der es auch einige Parkplätze gibt. Der erste Anblick wirkt etwas verstörend, sieht doch diese Seilbahn schon sehr in die Jahre gekommen aus. Wir sprechen uns Mut mit dem Gedanken zu, dass in der Schweiz alles seine Ordnung und Wartungsintervalle hat. Die Seilbahn wird jeden ersten Dienstag im Monat gewartet und fährt dann erst ab 17.00 Uhr wieder. Wir müssen nach der Ankunft erst einmal warten, bis die Seilbahnstation öffnet. Die Seilbahn macht nämlich eine Mittagspause und öffnet erst kurz vor der ersten Abfahrt um 14.00 Uhr.
Irgendwie warten wir die ganze Zeit darauf, dass jemand kommt und die Tür aufschliesst. Dem ist aber nicht so. Die Tür zur Seilbahnstation öffnet sich per elektronischer Entriegelung. Insofern war es mehr Glück, dass wir den Klick, der die Türöffnung anzeigt, mitbekommen haben.
Der Seilbahnwärter sitzt in Rasa und hat Kameras, um zu sehen, was in Verdasio los ist. Der Ticketautomat für die Seilbahn befindet sich in der Station. Inzwischen sind wir zwei Paare, die versuchen aus dem Ticketautomaten schlau zu werden. Der Besitz eines Halbtax- oder Generalabonnements führt zu einer Ermässigung. Für die Hin- und Rückfahrt werden dann 8 SFr statt 12 SFr fällig. Als wir denken, dass es endlich losgeht, kommt noch ein weiteres Paar. Die Seilbahn wartet geduldig. Für maximal 8 Personen ist die Gondel zugelassen. Jetzt streikt jedoch der Ticketautomat und lässt nur noch ein Ticket heraus. Das fehlende Ticket kann dann auf der anderen Seite bei der Kontrolle der Tickets durch den Seilbahnwärter gekauft werden.
Endlich, nach einem Warnton schliesst sich die Tür und die Seilbahn, die uns über das Tal nach Rasa bringt, setzt sich in Bewegung.
Rasa – ein versteckter Ort im Centovalli
Rasa liegt auf einer sonnigen Hochebene auf 898 m Höhe. Dennoch liegt im Schatten noch Schnee auf den Hängen. Jeder, der hier erstmals aus der Seilbahn steigt, wird wohl unwillkürlich beim Anblick der Szenerie ein «wow» von sich geben.
Rasa ist wohl der einzige Ort in der Schweiz, der nicht über eine Strasse zu erreichen ist. Dieses Wissen verstärkt das Gefühl, in einer anderen Zeit gelandet zu sein. Rund um die Kirche befindet sich das Zentrum des kleinen Ortes mit seinen Steinhäusern. Ganzjährig leben hier nur 12 Personen. Zum Einkaufen muss man nach Intragna fahren. Dies erklärt wohl auch die verschiedenen fahrbaren Transportkarren an der Seilbahnstation.
Wir fragen uns, wie das hier mit der Post funktioniert? Interneteinkäufe wären in einer so abgelegenen Gegend eigentlich naheliegend. Aber, ob die Post an diesen entlegenen Ort liefert, wagen wir zu bezweifeln. Sicher befinden sich die Briefkästen irgendwo an einem zentralen Ort.
Rasa ist kein typisches Tessiner Bergdorf. Zieht es sich doch langgestreckt über den Rücken des Berges. Häufig sind die Tessiner Bergdörfer sehr verschachtelt gebaut, um genügend Platz für die Landwirtschaft zu haben. Wir laufen einmal ums Dorf und betrachten die umliegenden Berge. Dass man hier zur Ruhe kommt und zu sich selbst finden kann, glauben wir sofort. Wir bummeln und geniessen die Aussicht und fragen uns, was Menschen dereinst dazu bewegt hat, sich hier niederzulassen.
Die Geschichte von Rasa
Rasa wurde erstmals 1397 urkundlich erwähnt. Aus dem 15. Jahrhundert ist bekannt, dass die Männer nach Genua und Livorno wanderten und sich dort als Lastenträger im Hafen verdingten. Sie erhielten das Lastenträgermonopol. Kein Wunder waren die Männer stark, mussten doch viele Dinge wie Kalk oder die Steine für die Dächer der Häuser und Treppen nach oben getragen werden. Lasten bis 50 kg waren normal. Die Feldsteine, aus denen die Wände der Häuser gebaut waren, fand man hier überall. Die Tätigkeit als Lastenträger führte zu einem gewissen Wohlstand des Ortes. Um 1700 lebten 200 Menschen in Rasa.
Ab 1746 begann sich Rasa an dem Ort zu entwickeln, wo wir es heute besuchen. Früher hiess dieser Flecken Erde Digessio. Das alte Rasa entvölkerte sich nach und nach und wurde zur Terra Vecchia. Seit über 100 Jahren ist Terra Vecchia unbewohnt. Auch Rasa entvölkerte sich. Dies ging einher mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die mit der Abschaffung des Lastenträgermonopols zusammenhing. Innerhalb weniger Jahre ging die Einwohnerzahl rapide zurück.
Terra Vecchia
Terra Vecchia liegt unterhalb von Rasa. 1969 kaufte ein junger Berner Sozialpädagoge das gesamte Dorf für 5.000 SFr und verwirklichte, anfangs von Bordei aus, seine Vorstellungen, um «schwierigen» Jugendlichen, später Drogensüchtigen zurück ins Leben zu helfen.
Den Wiederaufbau, der durch die Zeit und die Umstände zerfallenen Häuser betrachtete der Sozialpädagoge selbst als Therapie. Entsprechend gehorchte der Wiederaufbau in erster Linie therapeutischen Zielsetzungen. Auch sollten die wiederaufgebauten Häuser einer therapeutischen Nutzung zugeführt werden. Die Häuser sollen Menschengruppen beherbergen und es ihnen ermöglichen, sich dort wohlzufühlen. Aufgrund der noch vorhandenen Mauerreste und dem Wissen um Tessiner Architektur wurde ein Konzept zum Wiederaufbau des Dorfes erstellt.
Die Mauerwerke von 25 zum Teil grossen Häusern und Stallungen und die Kirche wurden wiederaufgebaut bzw. neu errichtet. Wir laufen hin und schauen uns an, was vom Ort zu besichtigen ist. Die Kirche und ihr Garten sind bereits wieder vollständig instandgesetzt. Das Casa Convento beherbergt Menschen, die sich in Stille und Gebet zurückziehen wollen.
Der restliche Ort ist abgesperrt und wirkt noch ein wenig wie eine Baustelle. Läuft man auf dem Weg weiter nach unten, erschliesst sich der Blick auf beeindruckende Gebäude und Terrassen. Das so neu entstandene Dorf wirkt einladend. Da sich die Therapievorstellungen im Laufe der Jahrzehnte verändert haben, wird sich das Projekt spätestens nach Fertigstellung verändern müssen.
Wir schaffen es leider zeitlich nicht mehr zum auf der anderen Talseite liegenden Bordei weiterzulaufen, weil wir sonst womöglich die letzte Seilbahn verpassen würden. Allerdings können wir uns gut vorstellen, zu einer anderen Jahreszeit wiederzukommen.
Vielen Dank für die Bilder und den guten Kommentar.
Ich schreibe Ihnen, weil ich, als Lehrer am Freien Gymnasium Bern mit einem Kollegen, Jürg Strahm [verstorben] und einer Klasse, in den siebziger Jahren (genaues Datum?), eine Woche beim Wiederaufbau von Terra Wecchia beteiligt war. Ob unser Einsatz sehr nützlich war, ist mir nicht bewusst. Dass aber diese Arbeitswoche einen tiefen, sehr positiven und bleibenden Einfluss auf uns alle ausgeübt hat, besteht ohne Zweifel.
Hallo Herr Friedmann,
lernen kann man auf viele verschiedene Arten und Weisen und alles, was wir mit den Händen machen, «be-greifen» wir im wahrsten Sinne des Wortes. Ausserdem wirkt sich das Erkennen von Stärken jenseits der vermittelten Schulfächer sicher auch positiv aus. Es wäre wünschenswert, wenn in den heutigen Sekundar- und Gymnasialklassen nicht nur Wert auf Sprachaufenthalte, sondern auch Wert auf die Teilnahme an Hilfsprojekten gelegt würde.
Liebe Grüsse
Susan
1965 und 1967 war ich mit 13 und 15 Jahren mit meinen Eltern dort im Urlaub durch die innere Mission. Eine unvergessliche Zeit bis heute😀😀😀
Hallo Gerhard,
für einen Jugendlichen im Urlaub war die Gegend sicher ein Eldorado zum Spielen und Erkunden. Aber Urlaub ist auch etwas anderes als dort zu leben. Vor allem die Winter stelle ich mir sehr lang und einsam vor.
LG Susan