Schüleraustausch trotz Corona?
Vor ziemlich genau einem Jahr war ich in der Situation, dass ich mich entscheiden musste, ob ich im Austauschjahr nach Irland gehen wollte oder nicht. Anfang Januar 2020 haben meine Eignungsgespräche stattgefunden. Dann musste ich mich für eine Organisation entscheiden und zu Beginn des ersten Lockdowns haben meine Eltern die Verträge unterschrieben. Heute in einem erneuten Lockdown steht ihr vielleicht vor der Frage: Ist ein Schüleraustausch trotz Corona sinnvoll? Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten, aber ich versuche, euch einige Überlegungen an die Hand zu geben, die euch bei der Entscheidungsfindung helfen können.
Ich habe meine Entscheidung nicht bereut, auch wenn wegen Corona alles etwas anders läuft als normalerweise. In meinen Beiträgen könnt ihr lesen, was ich erlebt habe.
Fragen, die du dir stellen solltest
Wie flexibel bist du und wie flexibel ist deine Schule, aus der du kommst?
In der momentanen Zeit ist viel Flexibilität gefragt. Wie flexibel bist du in Hinblick auf dein Zielland? In meiner Schulklasse sind einige Mitschüler, die eigentlich nach Kanada, Australien oder in die USA wollten. Und die sich dann in aller letzter Minute für das Austauschjahr in einem anderen Land entschieden haben, da das Wunschland letzten Sommer nicht möglich war. Englisch wird in Irland auch gesprochen, nur ist es nicht so weit von Zuhause entfernt. Also überlege gut, ob du notfalls auch mit einem Zielland in Europa leben kannst. Gegebenenfalls kannst du auch noch ein Jahr warten und schauen, wie die Welt dann aussieht.
Die Flexibilität deiner Schule ist leider auch nicht unendlich (zumindest in der Schweiz). Irgendwann wollen sie definitiv von dir wissen, ob du in den Schüleraustausch trotz Corona gehst oder nicht. Je später die Entscheidung fallen muss, umso besser. Frage auch, ob es bei Änderungen in aller letzter Minute, dennoch eine Möglichkeit gibt, die Schule weiter besuchen zu können. Immerhin geht es um ein Jahr deines Lebens.
Was erwartest du von deinem Schüleraustausch?
Klar, du willst die Sprache des Gastlandes besser lernen, neue Freundschaften schliessen und etwas vom Gastland sehen. Vielleicht träumst du auch ein wenig vom High-School-Leben. Du erhoffst dir, deinen Stundenplan selbst gestalten zu dürfen. Dafür bist du auch bereit im Gastland in Quarantäne zu gehen.
Wach auf und mach dir klar, dass es nicht so kommen muss, wie du es erträumst. Ich besuche das Transition Year in Irland und eigentlich kann man seine Fachkombination selbst zusammenstellen, macht viele Ausflüge und lernt Firmen und Berufe kennen. Das Transition Year dient nämlich dazu herauszufinden, welchen Weg man danach einschlagen möchte. Einige Schüler, die von der gleichen Partnerorganisation in Irland betreut werden, konnten sich zumindest ihren Stundenplan zusammenstellen. Ich nicht, denn meine Schule ist viel zu klein.
Wir befinden uns pünktlich seit den ersten Trimester Ferien im Oktober mit Unterbrechung von drei Wochen an Weihnachten in einem verschärften Lockdown. Das bedeutet, dass nicht nur die meisten Geschäfte geschlossen haben, sondern der Radius, in dem man sich bewegen kann, 5 km um den Wohnort beträgt. Treffen bei der Gastfamilie mit anderen Personen sind fast unmöglich. Alle von der Schule oder von der Partnerorganisation geplanten Ausflüge in den Ferien wurden gestrichen.
Immerhin fand der Schulunterricht bis Weihnachten noch statt, so dass ich meine Freunde in der Schule treffen konnte oder auf dem Schulweg. Die Weihnachtsferien wurden verlängert. Allerdings sind jetzt bis Ende Februar auch die Schulen geschlossen worden. Da Online-Unterricht stattfindet, musste ich wenigstens mein Austauschjahr nicht unterbrechen.
Für die Schüler, welche jetzt im Januar mutig für ein halbes Jahr in den Schüleraustausch trotz Corona gegangen sind, ist es richtig blöd, denn sie lernen ihre Mitschüler nur online kennen. Sind dann die Sprachkenntnisse noch nicht so gut, wird es richtig schwer. Ohne Freunde fällt und steht der Schüleraustausch mit der Gastfamilie. Die Chance etwas vom Gastland zu sehen, haben sie vorerst überhaupt nicht. Schüleraustausch in Zeiten von Corona braucht nicht nur viel Mut, sondern auch viel Eigeninitiative, um etwas daraus zu machen.
Hast du schon einmal eine Kosten-Nutzen-Analyse aufgestellt?
Die Frage klingt vielleicht erst einmal merkwürdig in deinen Ohren, aber ich besuche das Wirtschaftsprofil am Gymnasium. Zu den Kosten gehört unter anderem der finanzielle Aspekt. Ein Austauschjahr kostet viel Geld, auch wenn es das Geld deiner Eltern ist. Zusätzlich wird der Schüleraustausch in den meisten Fällen auch deine gesamte Ausbildung um ein Jahr verlängern. Kommt der Schüleraustausch wegen der Umstände um Corona nicht zustande, ist ein Teil der Investition in den Sand gesetzt.
Meine Organisation war da sehr transparent. Viele Kosten, wie beispielsweise für das Suchen einer Gastfamilie, entstehen schon am Anfang. Diese kann man bei Abbruch nicht zurückfordern. Auch gestaltet sich das Suchen von Gastfamilien während eines Lockdowns sehr viel schwieriger. Und Reiserücktrittsversicherungen haben häufig ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen so angepasst, dass sie nicht zahlen müssen. Zusätzlich dazu besteht auch die Unsicherheit, dass du im Fall eines längeren Lockdowns eventuell das Austauschjahr unterbrechen musst.
Neben dem finanziellen Aspekten gilt es die Erfahrungen, die du eventuell sammeln kannst, gegen die Lebenszeit, die du gibst, abzuwägen. Inwieweit profitierst du von den im Austauschjahr gesammelten Erfahrungen für später? Musst du diese Erfahrungen jetzt sammeln oder könntest du sie auch später sammeln? Wie wäre es, statt dem Austauschjahr nach der Matur ein Gap-Year einzulegen und zu reisen? Wärest du der Typ für Work and Travel? Vielleicht ist dann deine Wunschdestination wie Australien oder Kanada für diese Visa-Programme wieder offen. Hast du eine soziale Ader und würdest eventuell mehr von einem Freiwilligenjahr profitieren? Auch ein Auslandssemester während des Studiums könnte infrage kommen.
Es gibt so viele Möglichkeiten, im Ausland eigene Erfahrungen zu sammeln. Mache dir also klar, warum es das Austauschjahr trotz Corona sein soll. Das Risiko, dass dein Austauschjahr in Zeiten von Corona nicht so abläuft, wie du es dir erhofft hast, ist gross. Und rede mit deinen Eltern, ob sie gegebenenfalls auch die anderen Möglichkeiten unterstützen würden.
Was bedeutet ein Austauschjahr für deine Freundschaften zu Hause?
Du gehst mutig in die Welt und wirst mit Tausend neuen Dingen konfrontiert, während deine Freunde in ihrem normalen Leben bleiben. Du veränderst dich und bei ihnen bleibt die Zeit auch nicht stehen. Was macht das mit deinen Freundschaften? Sie werden sich wahrscheinlich verändern, auch wenn ihr die ganze Zeit in Kontakt bleibt. Es könnte sein, dass du neue beste Freunde suchen musst, wenn du nach Hause kommst. Bei einer Beurlaubung kommst du sogar in eine neue Klasse. Dann besuchst du die Schule eine Schulstufe tiefer als deine alten Freunde. Was dich dann beschäftigt, haben sie schon erlebt, derweil sie sich auf den Abschluss vorbereiten.
Wie gehst du mit Unsicherheit um?
Wenn du im Beitrag bis hier her gelesen hast, gehe ich davon aus, dass das Austauschjahr trotz Corona immer noch eine Option für dich ist. Glückwunsch. Dann frage dich bitte als letztes noch, wie lebst du mit der Ungewissheit?
Mit dieser Frage bezwecke ich, dass du dir bewusst machst, dass das nächste halbe Jahr eine Achterbahnfahrt wird. Da gibt es die positiven Momente. Du hast einen netten Betreuer in der Austauschorganisation, der dir Mut macht. Ausserdem bekommst du jede Menge Infos über dein Zielland. Überdies stellst du deine Präsentationsmappe zusammen und beantwortest unzählige Fragen auf Fragebögen. Ja, du hast das Gefühl, es geht voran.
Aber dann kommen plötzlich neue Richtlinien im Zielland. Die Partnerorganisation bittet um Bedenkzeit, um sich darauf einzustellen. Die Fallzahlen gehen hoch und die Regierung deines Ziellandes überlegt neue Massnahmen. Dein Herkunftsland steht plötzlich auf der schwarzen Liste. Die Zeit geht ins Land und du hast immer noch keine Gastfamilie und keinen Flug. So langsam wirst du richtig nervös. Wie lange kannst du Plan B noch aufrechterhalten.
Bist du in der Lage, vollen Einsatz für die Schule zu bringen, auch wenn du gerade auf dem Absprung bist und nicht weisst, ob du wirklich springen kannst? Ich bin in dieser Zeit durch die «Hölle» gegangen.
Auch wenn du es dann endlich geschafft hast, im Flieger zu sitzen und dein Austauschjahr trotz Corona zu beginnen, bleibt die Unsicherheit bei jeder verhängten Massnahme, ob du zurückmusst.
Mein Fazit zur Frage, ob ein Schüleraustausch trotz Corona sinnvoll ist
Ich würde nur jetzt in den Schüleraustausch gehen, wenn die Alternative Verzicht hiesse. Habt ihr die Chance noch ein Jahr zu warten, dann wartet, in der Hoffnung, dass das Leben sich wieder normalisiert. Es ist so schade, dass man so wenig vom Gastland zu sehen bekommt. Selbst Festivitäten wie Halloween in Irland konnten nicht wie üblich stattfinden, da wegen des Lockdowns keine Dekorationen verkauft wurden.
In Irland ist man nie weit vom Meer entfernt, aber wenn man sich nur 5 km vom Haus entfernen darf, kann man das Meer dann unter Umständen doch nicht besuchen. Sich mit einer Freundin in ein Café zu setzen und eine heisse Schokolade zu trinken und dabei das Geschehen zu beobachten, macht so viel Spass, aber wenn alles geschlossen ist, hockt man bei der Gastfamilie. Schüleraustausch in Zeiten von Corona ist anders.